Aktienglück, Konsum und adieu Heimat

Serie „1923 – vor 100 Jahren“  (Folge II): Die Gegensätze prallten in der Wirtschaft und im Konsumverhalten  aufeinander: Stuttgart hatte  bereits vor 100 Jahren ein  Finanzwesen, dem man zunächst vertraute – Auf der anderen Seite dachten Familien  ans  Auswandern.

 

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Das Bankwesen war 1923 in Württemberg nicht nur eingeführt, es war etabliert. Schließlich hatte Königin Katharina bereits schon vor mehr  als hundert Jahren die Württembergische Sparkasse gegründet.
 Einerseits hatten Bürgerinnen und Bürger der Bank ihr Geld anvertraut. Und die, die mit Finanzen umzugehen wussten, spekulierten Anfang der Zwanzigerjahre     mit Aktien. Sie hofften, der Inflation zu entgehen, indem sie mit Portfolios an die Börse gingen.
In der Festschrift „150 Jahre Börse Stuttgart 1861–2011“  wird von einem bis dato „nie dagewesenem Spekulationsfieber“ auch in der Stadt zwischen Wald und Reben gesprochen.   Die Oberschicht setzte ihren Glauben in die Wertpapiere von Daimler, Bosch und Co. Für die Berliner Großbanken war das Geschäft mit den Württembergern famos: Mit ihrer Kaufkraft und ihrem Mut  zu Gründungen belebten  die Handelstätigkeiten aus Stuttgart in der ganzen Republik die Börsengeschäfte.
 Und da man versuchte, viele Aktien in den Portfolios zu halten, war es  letztendlich gewährleistet, dass  die  „Marktregulierung der Heimatwerte“, wie es in der Festschrift heißt, in den andernorts sehr turbulenten Zeiten  für eine gewisse Stabilität sorgte.
Aber wie erging es der Unter- und  Mittelschicht?  Lebensmittel waren rar, sie waren teuer, besonders Fleisch. Vor allem die Verteilung von Milch wurde  bis ins Jahr 1924 vom Staat reguliert.  Dank Lebensmittelkarten sollte die Versorgung für die Bevölkerung gewährleistet sein. Die Marken waren entweder zeitlich begrenzt, oder sie durften nur nach einem „besonderem Aufruf“ eingesetzt werden.
Vor allem Kinder waren nach dem  Ersten Weltkriegs oft nicht gut ernährt. Hauptsächlich traf es die Kinder der Armen.   Im Schuljahr 1925/26 – und hier war man schon in den
„Goldenen Zwanzigern“ –   wogen Jungen in Stuttgart um die 14 Jahre circa  38,5 Kilo, Mädchen im gleichen Alter im Durchschnitt knapp 42 Kilogramm. Ihre Altergenossen in höheren Schulen wogen durchschnittlich um die vier Kilo mehr. Der Ernährungszustand wurde von den Ärzten gerade mal bei einem Viertel der Jungen an der Volksschule als „gut“ eingestuft. Bei immerhin fünf Prozent der Volksschulmädchen wurde  1925/26 Ungeziefer festgestellt.
 Der spätere US-Präsident und Quäker Herbert C. Hoover hatte die Quäkerspeisungen eingeführt, die bedürftigen Kindern, aber bis 1923 auch notleidenden Studierenden und Rentnern angeboten wurden. In der Regel kam, wie das  Foto aus dem Jahr 1921 in Zuffenhausen zeigt, in oft pädagogischen oder kirchlichen Einrichtungen eine ganze Gruppe zusammen für eine gemeinsame Essensausgabe und Speisung.
Ein Glück für die Stuttgarter in den Inflationsjahren
war auch, dass  seit Anfang des Jahrhunderts Gaisburg und andere bisherige Vororte zur Stadt gehörten. 1908 war Degerloch eingemeindet worden, 1922 Botnang, Hedelfingen, Kaltental und Obertürkheim. In all diesen jüngeren Stadtbezirken, die meistens auch seit mehr als zwei Jahrzehnten an das Straßenbahnnetz angebunden waren,  wurde auch noch  Land- beziehungsweise Obstwirtschaft betrieben.  Oder die Weinberge mit ihren Reben sorgten noch für einen Ertrag.
„Gehst du zum Konsum?“ Vielleicht erinnert sich mancher Stuttgarter oder manche Stuttgarterin noch an diesen Satz der Großeltern, wenn man zur Handelskette Coop zum Einkauf ging. Letztendlich beruht Coop auf dem vom Sozialreformer Eduard Pfeiffer 1863 gegründeten  Consum- und Ersparnisverein.  Die Konsumvereine hatten  im Stuttgarter Raum  zwischen 1890 und 1900 Hochkonjunktur. Aber bis in die Zwanzigerjahre hinein galten sie als gute Anlaufstelle für Arbeiter und deren Familien, um haushaltdeckend wirtschaften zu können.  
Doch  die galoppierende Inflation hatte auch Stuttgarter Familien ins Grübeln gebracht: Was tun, wenn die Lebensmittel irgendwann nicht mehr reichten, wenn das  Geld nichts mehr wert wäre? Auswandern?
In seinem Buch „Roaring Twenties“ stellt  der Autor Jörg Schweigard dar, wie häufig  das Stuttgarter Institut für Auslandsbeziehungen, das damals schon existierte und zunächst im Linden-Museum angesiedelt war, zur Beratung für Auswanderung aufgesucht wurde. So ließen sich 1922 25 000 Bürgerinnen und Bürger beraten, 1924 30 000.  „Man warb ganz offensiv mit der Auswanderung“, meint Schweigard. In seinem Buch findet man Anzeigen zur Ausreise nach Nord-, Mittel- und Südamerika, nach Afrika und Ostasien per Dampfschiff  ab  Hamburg oder Bremen. Der Anfahrtsweg wurde in den Anzeigen gleich mitberücksichtigt. „Man kann  feststellen, dass mit Beginn der Goldenen Zwanziger dann die Auswanderungswelle wieder zurückging.“

Online-Tipps und Literatur:

Das Jahr 1923 gilt heute – 100 Jahre später – als eine kurze, verrückte Periode, die den sogenannten Goldenen Zwanzigern vorausgegangen ist. Das Stuttgarter Wochenblatt richtet mit der Serie „1923 – vor 100 Jahren“ den Blick auf Stuttgart und stellt die aufstrebende Stadt mitten in der Weimarer Republik mit ihrer Wirtschaft, ihrer Urbanisierung, ihrem Beginn von Freizeitvergnügen und ihren Persönlichkeiten vor. Trotz der Hyperinflation, der Lebensmittelknappheit und Armut, die wohl vor allem die Quartiere der früheren Altstadt zu spüren bekamen, stand es um die Stadt an Neckar und Nesenbach nicht ganz schlecht: Börsen und das Bankwesen stabilisierten sich, als im November 1923 die Rentenmark eingeführt wurde.
Mehr Literatur: Jörg Schweigard, „Stuttgart in den Roaring Twenties. Politik, Gesellschaft, Kunst und Kultur in Stuttgart 1919– 1933“, G. Braun Verlag. Mehr über Eduard Pfeiffer:  www.geissstrasse.de/media/denkblatt_pfeiffer.pdf