Kein Dach überm Kopf (II): Die Wochenblatt-Serie beschäftigt sich mit Obdachlosigkeit in der Großstadt – In Teil zwei geht es um die Bahnhofsmission, die nicht nur Menschen in Notsituation Hilfe bietet. 

 

 

 

In Stuttgart leben rund 1000 Menschen auf der Straße. Der Winter ist für die obdachlosen Menschen die härteste Zeit im Jahr. Viele suchen Schutz im warmen Bahnhofsgebäude. Am Gleis 16 am Stuttgarter Hauptbahnhof findet man die Bahnhofsmission. Aufgrund der Baustelle zwar zurzeit im Container, deshalb aber nicht weniger gemütlich und warm.

„Wir haben aktuell drei Sitzplätze, die wir vergeben können“, erklärt Antje Weber, Leiterin der Bahnhofsmission in Stuttgart, und zeigt auf drei kleine Tische mit Sitzbank. Bei den eisigen Temperaturen draußen kommen immer wieder Menschen, um sich aufzuwärmen, Essen abzuholen oder einfach nur um sich zu unterhalten.

Momentan gibt die Bahnhofsmission als Außenstelle der Vesperkirche täglich von 13 bis 15 Uhr warmes Essen an Bedürftige aus. „Unter der Woche kommen immer mal wieder Menschen zum Essen, aber am Wochenende ist das ganze Essen in einer halben Stunde weg“, so Weber.

Die Bahnhofsmission in Stuttgart hat mit dem Verein für Internationale Jugendarbeit e. V. und dem Katholischen Verband für Mädchen- und Frauensozialarbeit In Via einen evangelischen und einen katholischen Träger, die die hauptamtlichen Mitarbeiter stellen. Knapp 70 ehrenamtliche Helfer, acht Hauptamtliche und zwei im Freiwilligendienst arbeiten rund um den Bahnhof in Stuttgart. „Durch unsere christlichen Träger fühlen wir uns dem christlichen Menschenbild verbunden“, meint Weber. „Wir Missionieren nicht, wie man bei unserem Namen vielleicht denken könnte. Aber wenn jemand kommt und ein Gebet sprechen möchte, helfen wir auch da gerne.“

In der Bahnhofsmission ist jeder willkommen. Ob ein Reisender, der sich aufwärmen möchte, eine Frau mit Kindern, die es nach langem Kampf geschafft hat, sich vom gewalttätigen Mann zu trennen, Menschen in psychischen Ausnahmesituationen oder jemand, der einfach nur ein offenes Ohr braucht. „Wir fungieren auch als Vermittlungsstelle nach Stuttgart. Beispielsweise für Notunterkünfte oder bei Beantragung von Sozialleistungen“, erklärt die Leiterin und ergänzt: „Es ist immer ein Überraschungsmoment, wenn jemand zur Tür hereinkommt. Man weiß nicht, was er oder sie mitbringt.“

Die Hilfe ist normalerweise anonym. In Zeiten der Pandemie müssen die Angestellten jedoch die Kontaktdaten für die Nachverfolgung im Notfall aufschreiben. „Wir fragen nicht nach den Hintergründen oder wieso jemand sich in einer misslichen Lage befindet. Die Menschen erzählen das, was sie möchten, und wir versuchen zu helfen“, sagt Weber. Die Vielfältigkeit war auch ein Punkt, weshalb sich DHBW-Studentin Anna für die Bahnhofsmission entschieden hat. „Ich habe mich bewusst für diese Praxisstelle entschieden, weil man hier mit allem zu tun hat.“ Die 37-Jährige studiert im ersten Semester Soziale Arbeit. Anfangs sei es schwer, nicht jedem helfen zu können. Viele Obdachlose entscheiden sich konkret dafür, draußen zu leben. Sie fühlen sich eingeengt in Innenräumen und wollen unter freiem Himmel schlafen.

„Jeder hat die Freiheit, so zu leben, wie er es möchte. Das ist für viele vielleicht manchmal schwer nachzuvollziehen“, sagt Anna. Auch wenn sich einige obdachlose Menschen gegen eine Notunterkunft entscheiden, sind sie dennoch sehr froh, im Notfall einen Schlafsack oder eine dicke Jacke zu bekommen. „Wir sind keine Kleiderkammer“, betont Leiterin Weber. „Aber wir haben für den Notfall einige Dinge hier, die wir ausgeben können, und auch ein kleines Budget, mit dem wir dem Bedürftigen im Notfall ein kleines Essen kaufen können.“

Kleiderspenden werden nur im Einzelfall angenommen. Ende letzten Jahres hat die Bahnhofsmission jedoch eine besondere Spende von den „Wooligans Stuttgart“ erreicht. Die Strickbegeisterten haben Socken, Handschuhe und Mützen gestrickt, die nun an die Bedürftigen verteilt werden. Vor dem Eingang der Bahnhofsmission hängen ein paar Tüten mit kleinen Spenden darin. „Den Gabenzaun haben wir zu Beginn der Pandemie eingeführt“, erklärt mir Antje Weber. Passanten können dort kleine Spenden an den Zaun hängen. „Das Angebot wird von den Bedürftigen sehr gern angenommen. Es dauert meist nicht lange, bis die Spenden wieder weg sind.“

Antje Weber ist es aber auch wichtig zu sagen, dass die Bahnhofsmission nicht nur für Menschen ohne Dach über dem Kopf oder in Notsituationen da ist. „Mit Bahnhofsmission Mobil sind unsere ehrenamtlichen Helfer in ganz Deutschland unterwegs und begleiten Menschen im Zug, die nicht allein reisen können.“ Das seien vor allem Ältere oder Menschen mit Behinderung. Aber auch Kinder würden von den Helfern beim Reisen begleitet. „Die Menschen sollen ruhig mutig sein und sich bei uns melden, auch wenn sie nicht bedürftig sind. Wir freuen uns, jedem helfen zu können.“

 

 

Engel für das Ahrtal 

Was bedeutet es, in einer großen Stadt wie Stuttgart obdachlos zu leben? Die Serie „Kein Dach überm Kopf“ geht in den kommenden Wochen dieser und vielen weiteren Fragen nach. 
Nach dem Sturm im Sommer 2021 hat die ehrenamtliche Helferin, Schwester Birgit, Sturmholz gesammelt und zu Engeln verarbeitet. Die Bahnhofsmission hat die Engel für eine Spende abgegeben. Sogar Ministerpräsident Kretschmann wurde in einer Pressekonferenz ein solcher Engel überreicht. Die Spenden von knapp 3500 Euro gehen an die Bahnhofsmissionen in Hagen und Wuppertal.