Vom Betteln und „Einklaufen“: Die etwas andere Stadtführung durch Stuttgart
Stuttgart aus einer neuen Perspektive entdecken, eine Stadtführung, die Obdachlosigkeit und Drogenproblematik zum Schwerpunkt hat und auch das Elend in Stuttgarts Straßen aufzeigt? Die Stiphtung Christoph Sonntag und Kiwanis Stuttgart bieten in Kooperation mit der Straßenzeitung Trott-war alternativen Stadtführungen im Rahmen des StreetCamp-Projekts an.
Eine Stadtführung durch Stuttgart von Menschen mit eigener Straßenerfahrung – ehrlich, direkt und berührend: Die Streetcamp-Touren der Stiphtung Christoph Sonntag ermöglichen echte Begegnungen, bauen Vorurteile ab und schaffen mehr Verständnis für soziale Ausgrenzung.
Diesmal macht der erfahrende Trott-war-Verkäufer Thomas Schuler, genannt Tommy, die alternative Stadtführung. Den Kontakt zum Stiphtungs-Team von Christoph Sonntag knüpfte Zoltán Bagaméry vom Verein Kiwanis Stuttgart, der bei dem Projekt auch Kooperationspartner ist.
Tommy stammt aus dem Freiburger Raum und lebte in den 90er Jahren als schwerer Alkoholiker – sein Promille-Rekordwert wurde im Marienhospital mit 6,9 Promille Alkohol im Blut gemessen, „mit 3,5 Promille stand ich noch“ – für ein paar Jahre auf Stuttgarts Straßen und kennt sich aus wie kein anderer mit dem Obdachlosenalltag. Seit 46 Jahren ist er Alkoholiker, seit 22 Jahren trocken, Hut ab, das schaffen nicht viele! Der damalige Raubbau an seinem Körper fordert seinen gesundheitlichen Tribut des fast 60-Jährigen. Seinen Humor hat er aber deshalb nicht verloren.
Launig und informativ führt er die Teilnehmenden zu Stellen in der Stuttgarter City, an denen Obdachlose und Drogenabhängige Hilfe bekommen können. Drogensüchtige oder Obdachlose bekommt man auf der Führung allerdings nicht zu Gesicht. „Ich halte mit Absicht Abstand, damit sie sich nicht wie Affen im Zoo beäugt fühlen“, so Tommy. Seit 25 Jahren ist er als Zeitungsverkäufer bei Trott-war angestellt. „Ich wurde vor 14 Jahren fest angestellt und zahle voller Stolz meine Steuern. Ich bin stolz, seither vom Amt weg zu sein und wieder Teil des Systems sein zu dürfen“, so Tommy. Seit Jahren ist er auch Stadtführer für die alternativen Stadtbegehungen.
Keine Affen im Zoo: Drogensüchtige und Obdachlose bekommt man nicht zu Gesicht
Tommy Schuler berichtet auch über den Schlupfwinkel. Seine Erzählungen von 700 obdachlose Kinder und Jugendliche in Stuttgart machen die Teilnehmenden sehr betroffen. Christian Günther
Als Obdachloser hat Tommy mit betteln und „einklauen“ seinen Lebensunterhalt verdient. „Heute wieder unter der eigenen Dusche stehen zu können, ist wie ein 6er im Lotto“. Wer z.B. bei großer Hitze im öffentlichen Raum, z.B. in einem Brunnen, duscht und sich dabei oder beim Abtrocknen nackt zeigt, bekommt beim Erwischen in Stuttgart eine Anzeige mit Ordnungsstrafe. Und wer wusste, warum in vielen Toiletten Blaulicht installiert wurde? Damit die Heroinsüchtigen im Blaulicht ihre Venen nicht finden und diese Toiletten nicht mehr aufsuchen. Wer sich beim Austreten in den Büschen erwischen lässt, muss 35 Euro bezahlen, beim großen Geschäft 70 Euro. Tommy bevorzugte in seiner Obdachlosenzeit die Dusche in den Hilfseinrichtungen: Für 1,50 Euro duschen und saubere Kleidung bekommen.
„Du kannst auch im Sommer bei Temperaturstürzen erfrieren, mit Alkohol im Blut spürst du nichts“, erzählt er, und weiter: „Ich habe auf der Straße immer nur mit einem Auge geschlafen“, ruhige Nächte sind für Obdachlose auf der Straße eine Seltenheit, immer schwebt die Gefahr mit.
Tommy lobt vor der Leonhardskirche die Vesperkirche der Stadt. Von Januar bis März bekommen hier bis 2000 Bedürftige täglich Hilfe und ein Essen. Frisöre, Ärzte, Fußpflege, Tierärzte, Zahnärzte: In der Sakristei bekommen hier die Obdachlosen die Hilfe, die sie wirklich benötigen. „95 Prozent der Besucher haben ein Suchtproblem, da wirkt oft keine Narkose“, macht Tommy auf ein Problem aufmerksam, dass unbedarfte Laien niemals bedacht hätten.
Vesperkirche, Cafe La Strada, Strichpunkt und Schlupfwinkel: Hier bekommen Betroffene Hilfe
Die zweite Anlaufstelle auf der alternativen Tour ist das Cafe La Strada, ein Schutzraum für die Prositutierten in der Altstadt sowie das Cafe Strichpunkt für die männlichen Stricher in Stuttgart. Ein Drogensüchtiger benötigt an die 400 Euro pro Tag für die Finanzierung seiner Drogensucht. Die meisten können das neben Diebstählen nur mit Prostitution realisieren. „Auf dem Drogenstrich in Stuttgart bekommt man eine komplette Nummer schon ab 10 Euro, früher waren es mindestens 50 Euro“, erzählt Tommy. „Die Sucht treibt’s rein, der Ekel kommt gar nicht oder später. Viele Drogensüchtige teilen sich eine Spritze“, erzählt er unsägliche Wahrheiten. In Stuttgart gäbe es heute 3- bis 6000 Heroinabhängige, das gehe bis in die oberen 10 000 mit hohen Dunkelziffern. Tommy erzählt von neuen, schrecklichen, synthetischen Drogen wie Crocodile oder Fentanyl.
Heroin, Crocodile und Fentanyl: Eklige Wahrheiten aus der Drogenszene
Weitere Anlaufpunkte der Führung ist der Schlupfwinkel und das Jugendamt am Wilhelmsplatz. In Stuttgart gibt es an die 700 obdachlose Kinder und Jugendliche, die hier Hilfe finden können. Sie alle haben im Elternhaus Missbrauch, Gewalt und Grausamkeiten erfahren. Die jüngste Obdachlose ist 15 Jahre als und lebt schon seit vier Jahren auf Stuttgarts Straßen – das schockt die Teilnehmer der Stadtführung sichtlich.
Schließlich noch ein Halt bei der Paulinenbrücke zum Ende der Führung. Bis 2007 eskalierte hier die Drogenproblematik, man fand 500 Einwegspritzen in der dortigen Toilette. Heute bietet dort Harrys Bude Hilfe mit Essen und Kleidung. Auch die Caritas, die Evangelische Gesellschaft (eva) stehen mit Hilfsangeboten bereit, genauso die Franziskusstube von Schwester Margret – die im Augst 86 Jahre alt wird und immer noch unermüdlich ihre Schäfchen, die Obdachlosen, betreut. Sie bietet Obdachlosen ein Frühstück, ein Essen, Kleidung und einen Schutzraum. Schwester Margret hat einen LkW-Führerschein und sammelt weiter unermüdlich Spenden für ihre wichtige Arbeit. Und schließlich Trott-war selbst mit Räumlichkeiten in der Falkertstraße mit kleiner Begegnungsstätte, Café und Kleiderkammer – vorher war man lange Jahre in der Hauptstätter Straße. 266 Straßenzeitungs-Verkäufer finden hier in Stuttgart und Umland eine sinnvolle Tätigkeit.
Die Teilnehmer bekommen einen authentischen Einblick in ein Leben jenseits von Komfort und gesellschaftlicher Sicherheit. Die alternativen Stadtführungen laden dazu ein, genau hinzusehen und von denen zu lernen, die das Leben auf der Straße selbst kennen, um so Barrieren abzubauen. Die Führung ist für all diejenigen gedacht, die in eher privilegierten Umständen leben und selten Berührung mit dem Thema Wohnungslosigkeit haben.
Gut zu wissen:
Die StreetCamp Stadtführungen sind Teil des Großprojekts StreetCamp der Stiphtung Christoph Sonntag, das durch die Förderung der Deutschen Postcode Lotterie ermöglicht wird. Mit dem Projekt soll ein Zeichen für mehr Respekt gegenüber wohnungslosen Menschen gesetzt werden gleichzeitig gezielte Hilfs- und Mitmachangebote geschaffen werden. Durch Begegnungen auf Augenhöhe, persönlichen Austausch und neue Perspektiven will die Stiftung Berührungsängste und Vorurteile abbauen und ein tieferes Verständnis für soziale Ausgrenzung und schwierige Lebenslagen fördern, mit dem Ziel, unsere Gesellschaft ein Stück näher zusammenzubringen. Das Projekt umfasst mehrere Teilaktionen, darunter eine Fotokampagne, Freu(n)de erleben, die StreetCamp Stadtführungen sowie das STREETCAMP-Fest am 14. September. Auf dem Fest werden auch Kleiderspenden übergeben. Eine weitere Streetcamp-Stadtführung zum Thema "Hisotrischer Ort Leonhardsviertel: Leben auf der Straße im Rotlichtviertel, Einblicke in die dortige Sexarbeit, Geschichte und Gegenwart" findet am 15. Juli statt. Mehr Infos unter: stiphtung.tv/projekte/streetcamp/.