Alle Stilrichtungen, die im Jahr 1923 in der Bildenden Kunst in der Öffentlichkeit sichtbar waren, entwickelte sich nicht aus dem Nichts. Die Stuttgarter hatten schon Oskar Schlemmers Triadisches Ballett mitgemacht. In der „Szene“ kannte man bestimmt Adolf Hölzels Studien zu seinen kaleidoskop-artigen Glasfenstern. Vielleicht hatte man auch schon gehört, dass leicht bekleidete Tänzerinnen rund um das Teehaus abgelichet worden waren.

Die Künstler und vereinzelt auch ein paar Künstlerinnen schienen danach zu streben, den Rahmen buchstäblich sprengen zu wollen. Was vielen Kunstschaffenden nahestand, war das Theater. Es war nicht nur Oskar Schlemmer, der seine Figurinen nach genauen Vorgaben über die Bühne tanzen ließ. Auch der Antroposoph Rudolf Steiner, Künstler und Professor Willi Baumeister und viele andere beschäftigten sich damit.

Lotte Reiniger, bekannt mit Brecht

Gut bekannt mit dem angesagten Theatermacher Bertolt Brecht war übrigens auch die Scherenschnitt-Pionierin Lotte Reiniger, die ihren letzten Lebensabschnitt in Dettenhausen bei Tübingen verbrachte. Die Studentenstadt hat deshalb auch das Lotte-Reiniger-Museum mit sämtlichen Ausschnitten ihrer märchenhaften Trickfilme, mühsam Bild für Bild mit einer Kamera erstellt. Brecht soll begeistert gewesen sein. 1923 begann die gebürtige Berlinerin mit ihren Silhouetten-Animationsfilm „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ als abendfüllendes Programm.

Reinhold Nägele: fast naiv

Was heute wie damals vor hundert Jahren fast kindlich und merkwürdig traditionell wirkt, waren die Motive Reinhold Nägeles. Der Murrhardter ging bei seinem Vater, einem Dekorationsmaler, in die Lehre. Das künstlerische Handwerk lernte er an der angesehenen Kunstgewerbeschule in Stuttgart, dort, wo auch Paula Straus (wir berichteten) begonnen hatte. Es folgte – dank eines Stipendiums – ein Studienaufenthalt in München, zusammen mit Jakob Wilhelm Fehrle.

1923 schien es in der Stadt an Nesenbach und Neckar nicht nur in Banken oder Läden chaotisch zuzugehen, sondern auch in der etablierten Haute-Volée der Kunstszene Erschütterungen zu geben: die Kunstgewerbeschul-Lehrer Alfred Lörcher und Bernhard Pankok, Nägele und Fehrle, die Akademielehrer Heinrich Altherr und Arnold Waldschmidt lösten eine Art „Pen“-Debatte aus: „zu konservativ“ erschienen ihnen die Ansichten des bisherigen Stuttgarter Künstlerbunds.

Die Stuttgarter Secession

Etwas Neues musste her, die Stuttgarter Secession, die andere Formen von Ausstellungen durchführen wollte. Der Gruppierung schlossen sich unter anderem Käte Schaller-Härlin, Ida Kerkovius, Willi Baumeister, Max Ackermann, Tell Geck oder Paul Kälberer an.

1923 hatte die erste Ausstellung im Kunstgebäude stattgefunden. 1924 folgte der Auftritt auf der Internationalen Bauausstellung. Dank Nägele hat man heute eine ziemliche genaue Vorstellung, wie diese frühe „Iba“ aussah. Wie ein Chronist hat er die Schau in einer Art Wimmelbild festgehalten.

Kein Lob vom Kritiker

Während Zeitgenosse Otto Dix seine Frau Martha, „Mutzli“, heiratete und 1923 sofort ihre Rundungen, ihre Schuhe, ihren Pelz oder ihren charakteristischen Hut abbildete, begnügte sich Nägele mit der Pflicht eines Berichterstatters. So schrieb die kommunistische Presse über Nägeles „Straßenkampf am Kernerplatz“ (1925): „Reinhold Nägele hat eine Wahldemonstration gemalt, die gar nicht viel besagt und ebenso gut Photographie sein könnte.“ Der Kritiker weiter: „Vom (...) Klassenkampf, die den Anlass zur Parteienbildung geben, hat Herr Nägele offenbar keine Ahnung.“

Emigration mit Ehefrau

Dafür aber von Treue und Anstand: Nägele war mit der Jüdin Alice Nördlinger verheiratet, die ab 1933 nicht mehr als Ärztin praktizieren durfte.  Nägele, seiner Familie und den drei Söhnen gelang es, mithilfe seines Förderers Hugo Borst, kaufmännischer Direktor der Firma Robert Bosch, über Paris und London nach New York City zu reisen. 1963, im letzten Lebensabschnitt, kehrte Nägele nach Stuttgart zurück, wo er 1972 starb.