2023 feiert die Landesstelle für Volkskunde  in Stuttgart ihr 100-jähriges Bestehen. Sie ist eine außeruniversitäre Forschungs- und Archiveinrichtung und gehört seit 1979 zum Landesmuseum Württemberg. Bei ihrer Gründung 1923 zählten das Sammeln und Bewahren „volkstümlicher“ Überlieferungen in Wort und Bild zu den zentralen Aufgaben. Heute liegt der Schwerpunkt ihrer Arbeit auf dem Alltagsleben im Südwesten.

Kategorisieren des Brauchtums und des Alltragsleben

Der „Atlas der deutschen Volkskunde“ (ADV) war zum Beispiel eines der ersten Projekte ab 1920, an dem Wissenschaftler in sämtlichen Gebieten im Deutschen Reich, in Österreich sowie in einigen damals deutschsprachigen Gebieten Ost- und Südeuropas forschten. Die  „Volkskultur“ war schon damals als „gefährdet“ eingestuft worden. Ein unglaublicher Aufwand wurde mit Hilfe von Fragebögen erhoben. Millionen von Daten zum Alltagsleben, zu Bräuchen, Festen und Ritualen und religiösen Vorstellungswelten konnten gesammelt, dokumetiert und kategorisiert werden.

Zum Forschen zum Wandern 

Karl Bohnenberger, der als Pfarrerssohn unter anderem in Stuttgart wohnte und hier das Gymnasium besuchte, war einer dieser engagierten Forscher im südwestdeutschen Raum, der die Studien durchführte. Und  er scheute sich nicht davor, für die lebendige Wissenschaft den Elfenbeinturm zu verlassen. Er begab sich auf ausgedehnte Fußmärsche im gesamten schwäbisch-alemannischen Raum. 

Wandern ist Motto für  100 Jahre Landesstelle für Volkskunde

Passend zum Thema "Reisen und erkunden zu Fuß" haben die Mitarbeitenden der Landesstelle das Thema Wandern fürs 100-Jahr-Jubiläum gewählt.  Aber nicht nur das einfache, ganz normale Wandern lag im Trend. Von Hermann Hesse weiß man, dass er schon 1907 mal nackt im Tessin wanderte.  Geradezu geschockt  musste man in Stuttgart  gewesen sein, als Rudolf von Laban Anfang der 1920er Jahre auf der Bildfläche erschien.

Der Bohemien Rudolf von Laban

Von Laban führte das typische Leben eines Bohemien: er schert sich anscheinend nicht darum, was andere von ihm denken, studiert Kunst, angewandte Kunst, aber fühlt sich auch dem Naturstudium nahe. Seine erste Gattin und sein Vater finanzieren sein Leben. Als sie unverhofft in kurzen Abständen voneinander sterben, ist von Laban bankrott. In München-Schwabing richtete er ein Bewegungsatelier ein, zusammen mit seiner zweiten Frau. Irgendwann kommt es zum Burn-Out, von Laban sucht eine Heilanstalt in der Nähe von Dresden auf. Hier lernt er lebensreformerische Prinzipien kennen und Suzanne Perrotte kennen. Zusammen mit Suzanne und der zweiten Gattin führt er ein Dreiecksverhältnis. 

Freier Geist durch befreiten Körper

Besonders prägend für ihn aber auch für sein Leben in der Rückschau war die Epoche im Tessin. Auf dem Monte Verità im schweizerischen Ascona hielt er zwischen 1913 bis 1919 seine Sommerkurse im Tanz ab und warb für das einfach Leben, nahe an der Natur. Zu der neuen Tanzauffassung gehörte das Durchdringen des Geistigen, Auflösen von Grenzen, Vereinigung mit der Natur - was im Umkehrschluss auch dafür sorgte, dass die zahlreichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich ihrer Kleider entledigten - der freien Bewegung und Geistehaltung zuliebe. 

Tanzrunde in der Stuttgarter Paulinenstraße

Der ungarische Tänzer, Choreograf und Tanztheoretiker sollte 1923 die erste Labanschule  in Hamburg gründen.  Ein gar nicht so kurzes  Zwischenspiel hatte Laban in Stuttgart, als er im April 1920 in der Turnhalle eines Gymnasiums Vorträge hielt, aber auch  buchstäblich zur Reformbewegung aufrief. In der Paulinenstraße 40, im „Zebeka“, der Zentralstelle für Beratung in allen künstlerischen Angelegenheiten, scharte  er eine Handvoll junger Leute um sich.

Der Tänzer Kurt Jooss erinnerte sich später: „Ich war als Tänzer denkbar ungeeignet: dick, phlegmatisch und völlig ohne Muskeln. Vom ersten Augenblick an meiner Berührung mit dieser Welt geschah mir jedoch eine völlige Umwandlung: Mein ganzes Wesen war im Innersten ergriffen und hingerissen (...).“ Aus den wenigen Anfangsjüngern wuchs schnell eine große Anhängerschaft, die  ins  Kunstgebäude umziehen durfte.

Hoffen auf Ballettchef-Posten

Vermutlich war von Laban damals bekannter als heute der Stuttgarter Tänzer Eric Gauthier. Der Lebensreformer gründete Anfang der 1920er Jahre eine eigene Compagnie, war auf Tournee-Reisen und hoffte auf den Posten des Ballettdirektors ins Stuttgart. Leider vergeblich!   

Vielleicht stand den Verantwortlichen am Landestheater die Szene vor Augen, wie von  Laban an seine sonnigen Morgentänze im Adamskostüm auf dem Monte Verità anknüpfen  könnte. Und das  war manchem im fortschrittlichen, aber frömmelnden und pietistischen Württemberg dann doch zuviel des Guten.  

Von Laban macht sich gen Norden auf. Seinem Ruhm tat es keinen Abbruch. In Stuttgart hat er wie Waldorf-Gründer Rudolf Steiner oder Fritz Graf von Bothmer  -  1922 und 1938  Entwickler des Turnunterrichts an der ersten Waldorfschule  in Stuttgart - vor allem an den Staatstheatern und in Ballettschulen seine Spuren hinterlassen. 

 

Info: Februar bis September: „Wir wandern wie die Anderen“ – Vitrinen-Ausstellung
mit dem Schwulen Wandertreff Stuttgart im Museum der Alltagskultur – Schloss Waldenbuch
Sonntag, 7. Mai, 10 Uhr, Waldenbuch:
Jubiläumswanderung zu „Flurnamen“, Schwäbischer Albverein
Sonntag, 14. Mai: 
Tag des Wanderns, Google Arts & Culture präsentiert „Wandern Online“, mehr unter http://www-landesmuseum-wuettemberg.de.
September:
„Wanderungen“ im Alten Schloss: Ausgewählte Themenführungen Zur Serie:
 Das Stuttgarter Wochenblatt stellt  mit der Serie „1923 – vor 100 Jahren“  die aufstrebende Stadt mitten in der Weimarer Republik  vor.