Christian Hermes ist seit 2011 Stadtdekan von Stuttgart und zugleich Dompfarrer der Konkathedrale St. Eberhard in der Stuttgarter Innenstadt. Der 1970 geborene Geistliche hat den kirchlichen Erneuerungsprozess „Aufbrechen“ angestoßen und vorangebracht.  Hermes setzt sich für kirchliche Reformen auf allen Ebenen ein, daneben tritt er für eine starke demokratische Gesellschaft ein. 


Was ist Ihr Lieblingsplatz in Stuttgart?
Es gibt viele schöne Orte und Perspektiven: den Birkenkopf, „Monte Scherbelino“, mag ich sehr mit seinem tollen Blick über die Stadt und seiner Geschichte, die von der Zerstörung Stuttgarts im Zweiten Weltkrieg zeugt, aber auch vom Wiederaufbau. Dann mag ich wirklich sehr gerne unsere Domkirche St. Eberhard, eine optische und akustische geistliche Oase mitten im pulsierenden Leben der Innenstadt. Immer wieder fasziniert mich auch der Blick, vor allem am Abend, von einer der großen Straßen, von der Neuen Weinsteige oder vom Birkenkopf in den Kessel hinab: wenn das Lichtermeer der Stadt vor einem liegt. 

Was lieben Sie an Stuttgart und den Stuttgartern?
Die gut-schwäbische „Schaffigkeit“ verbunden mit ebenso schwäbischem Understatement. Wenn es eine Stadt in Deutschland gibt, die mit ihrer Wirtschaft, ihrer Kultur, ihrem gesellschaftlichen Leben angeben könnte, aber  es nicht tut, dann ist es Stuttgart. Und ich liebe das sehr Eigenständige der verschiedenen Stadtbezirke. Ich habe einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, was Vaihinger, Degerlocher, Cannstatter und Feuerbacher meinen, wenn sie „nach Stuttgart“ fahren. Man darf in Stuttgart eigen sein, und gehört doch zusammen. Groß finde ich, gerade in der damaligen Zeit, den Satz von Manfred Rommel: „Wer in Stuttgart lebt, ist Stuttgarter!“ Übrigens pflegen auch die Stuttgarter Katholiken ihren selbstbewussten Eigensinn, was in der katholischen Welt immer mit respektvollem Misstrauen, wenn man so sagen kann, quittiert wird. „In Stuttgart ist das natürlich wieder anders“, wird dann moniert. Und ich sage: „Genau! In Stuttgart ist es anders als in Rottenburg oder auf der Schwäbischen Alb. Und das ist gut so!“

Nun zur Kernfrage: Mit welchem Projekt(en) „bewegen“ Sie gerade was in Stuttgart?
Wir haben vor gut zehn Jahren das große Entwicklungsprojekt „Aufbrechen - Katholische Kirche in Stuttgart“ begonnen und so ziemlich alles auf den Kopf gestellt: Was ist unser Auftrag? Was müssen wir ändern? Wofür verwenden wir das Geld? Wie entwickeln wir unsere vielen Kirchen und Gebäude? Was braucht es in unserer Stadt? Dabei haben wir uns verpflichtet: „Wir sind Kirche in der Stadt und für alle Menschen dieser Stadt!“ Deshalb 60 Kitas, einen großen ambulanten Pflegedienst, die Katholische Sozialstation, das Hospiz, das Spirituelle Zentrum „station s“. Inzwischen sehen wir erfreulicherweise einige Früchte, zum Beispiel mehrere große Standortentwicklungen. Wir verkleinern Kirchenräume, aber so, dass für das Gemeinwohl etwas Wertvolles entsteht, zum Beispiel jüngst in Mönchfeld 65 Seniorenwohnungen, ein Pflegestützpunkt und eine Kita. Da haben wir noch einiges vor. 

Was ist denn gerade Ihr absolutes Lieblingsprojekt?
Spätestens Corona hat uns gezeigt, dass seelische Gesundheit, Resilienz, Verwundbarkeit zentrale Herausforderungen sind und dass wir uns neu auf das konzentrieren müssen, was man klassisch als „Seelsorge“ bezeichnet: sich um die Seele sorgen, oder neudeutsch: „Mental health“. Wir bereiten gerade ein Programm vor, bei dem wir mit ausgebildeten Instruktoren in Zusammenarbeit mit dem Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit ein seelisches Erste-Hilfe-Programm anbieten: „Mental Health First Aid“. Wir ermöglichen, dass egal, wer will, einen kompakten Kurs machen kann und so wie beim  Erste-Hilfe-Kurs einige Grundkenntnisse  über seelische Probleme lernt.  Wenn alles klappt wie geplant, gehen wir 2024 damit raus und werden rund 200 Personen im Jahr schulen können.

Woher nehmen Sie Ihre Motivation?
Klingt pathetisch, ist es aber nicht: Aus dem Evangelium, der Frohen Botschaft Jesu von der Würde, vom Heilsein, von der Erlösung des Menschen –  aus meinem Glauben –  aus der Begegnung und der Arbeit mit ganz vielen tollen Menschen.

Welchen Wunsch haben Sie ans Universum, um in Stuttgart  die katholische Kirche attraktiver zu machen?
Die Kirche hat ihre Glaubwürdigkeit durch die Missbrauchsskandale und die Vertuschung auf empörende Weise beschädigt. Das ist eine Katastrophe für die Opfer.  Aber es tut mir auch für die vielen leid, die sich nichts zu Schulden kommen lassen und deren Engagement und Ruf dadurch belastet wird. Wäre gut, wenn das alles nie geschehen wäre. Nicht an das Universum, aber an meine Kirchenleitung auf den verschiedenen höheren Ebenen habe ich den Wunsch, die schon lange überfälligen Reformen endlich umzusetzen. Die Kirche darf kein Ärgernis sein! Sie soll den Leuten nicht auf die Nerven gehen und das Leben noch komplizierter machen, als es schon ist, sondern im Gegenteil: helfen, ein gutes, ein sinnerfülltes Leben zu führen, Hoffnung zu haben, Orientierung, Solidarität, Gerechtigkeit. Attraktiv ist Kirche, wenn sie nicht nervt, sondern hilft!