Gibt es das wirklich, eine gerechte Strafe? Einen gerechten Krieg? Einen gerechten Lohn? Um diese Fragen geht es bei der „Cannstatter Passion“. Zum Auftakt der Gottesdienstreihe ist Gefängnisseelsorger Hans-Ulrich Agster von der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim zu Gast in der Stadtkirche.

 

„Beim ersten Mal bin ich um die Anlage herumgelaufen und habe gedacht, das ist ja eine hässliche Welt“, erzählt Hans-Ulrich Agster. Vor rund fünf Jahren war das. Er ist geblieben. Diese Hässlichkeit trete zurück, wenn man mit Menschen zu tun habe, sagt der 57-Jährige. Der evangelische Seelsorger ist zusammen mit einem katholischen Pfarrer, einer katholischen Schwester und einer evangelischen Diakonin Ansprechpartner für etwa 500 Gefangene. Für Menschen, die sich in einer äußerst kritischen Lebenssituation befinden. „In Stammheim sitzen zu 80 Prozent Gefangene in Untersuchungshaft“, erklärt Agster. „Und Untersuchungshaft ist die schärfste Form der Haft.“ 23 Stunden am Tag sitzen viele der U-Häftlinge in ihrer Zelle, eine Stunde ist Hofgang. Sie warten auf das Ende der polizeilichen Ermittlungen, werden verhört, erleben den Prozess, warten auf ihr Urteil. Frühestens nach vier bis sechs Monaten U-Haft falle ein Urteil, weiß Agster aus Erfahrung, manchmal dauere es gar zwei bis drei Jahre. Mit der Familie oder mit Freunden über ihre Sorgen, ihren Alltag im Gefängnis reden, wenn ihnen der Sinn danach steht, können die Gefangenen nicht. Ohnehin zerbrechen viele Freundschaften in solchen Zeiten, leidet die ganze Familie unter der Situation. An die Gefängnisseelsorger können die Gefangenen sich wenden, wenn sie jemanden zum Reden brauchen. So unterschiedlich wie die Menschen, so unterschiedlich sind die Gespräche. Manchmal geht es darum zu hören, wie es der Ehefrau geht, ob oder wann sie kommt. „Besonders schlimm ist es, wenn Kinder im Spiel sind“, sagt Agster. Sagt man den Kindern offen, wo der Vater ist oder erfindet man eine Geschichte? Ist es besser, ein Kind sieht seinen Vater hinter Gittern als gar nicht, muss sich dafür aber in der Schule gemeine Sprüche anhören? Ein Patentrezept gibt es nicht. Agster kann beratend zur Seite stehen, dabei helfen, die Vor- und Nachteile abzuwägen. Andere Gespräche drehen sich um die Straftat oder um das Leben vorher. Die Bandbreite ist groß, sie reicht von einem wegen Völkermords Angeklagten bis zum Schwarzfahrer; hinter den Straftaten stehen Gier, Sucht oder schlicht Not. Agster hört zu, ohne zu werten. Natürlich fände er manches, was er da zu hören bekommt, abscheulich. „Aber ich bin kein Richter. Zuhören ist aktives Tun, mit dem man Menschen würdigt.“ So versucht er, mit positiver Neugier den ganzen Menschen anzuschauen. Und muss dabei darauf achten, dass er nicht nur die Täterperspektive einnimmt, sondern den Tätern auch ermöglicht, sich in die Opferperspektive zu begeben. Wenn sie das möchten – die Gefängnisseelsorger klappern keineswegs die Zellen ab und gehen auf Missionstour. Abgesehen von der Grundthematik, gibt es einen Unterschied zwischen seelsorgerischen Gesprächen im Gefängnis und draußen? „Im Gefängnis kommen die Leute sehr schnell zur Sache“, sagt Agster. „Sie sind nackt und bloß, spielen einem nichts vor.“ In der Gemeinde käme man viel schwerer an wunde Punkte. Außer in Krisenzeiten – wie Haft eben auch eine ist. „Natürlich ist das anstrengend“, sagt Agster. Aber es gebe nicht nur das ganz Schwere, sondern auch schöne Momente, auch Lachen. Agster hört viele interessante Lebensgeschichten, ist oft erstaunt über die Vitalität mancher Insassen. Nach seinem Arbeitstag geht er wieder raus aus der JVA, genießt gutes Essen, guten Wein, die Natur. „Einen Ausgleich fürs Herz braucht man“, sagt er. „Es heißt ja, du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Viele vergessen den hinteren Teil.“ Was denkt er, gibt es so etwas wie eine gerechte Strafe? „Ich werde da immer unsicherer“, sagt er. „Es kann nur darum gehen, den Menschen gerecht zu werden, dem Täter und dem Opfer.“ Im Gefängnis hat er kürzlich einen Betrüger kennengelernt. Mit dem Versprechen einer 1000-prozentigen Rendite hat er Leuten mehrere hunderttausend Euro abgenommen. Die Gier, die seine Opfer dazu trieb, ihr Geld herzugeben, die ist nicht strafbar. „Das mit der Schuld“, sagt Agster ,„ist immer so eine Sache.“